Kurzgeschichte: Die große Reise der kleinen Wichtel

Andrea Tillmanns [ - Uhr]

Wichtel gab es nicht nur in Köln, sondern wohl auch ganz in unserer Nähe. Was denen so wiederfuhr, können Sie hier hören, lesen oder beides:

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Sprecher: Albert Sturm

Als die Menschen kamen, wusste Finchen sofort, dass etwas Schlimmes passieren würde. Sie spielte gerade mit ihren Freunden Hubsi und Oskar im dichten Gras Verstecken, als sie einen Wagen anhalten hörte und dann viele Menschenfüße, die auf die Gustorfer Mühle zustapften.

Natürlich waren auch schon früher Menschen hierher gekommen, doch diesmal benahmen sie sich ganz anders. Rasch lief Finchen zurück zur Mühle, wobei sie sich Mühe gab, die Gras­halme nur zur Seite zu schieben und nicht abzuknicken. Mit ihrer Mütze aus Blättern und dem aus Gras geflochtenen Wams würden die Menschen sie nicht entdecken, und sie sollten nicht auf die Idee kommen, der Spur der Wichtelin zu folgen.

In der Mühle berieten sich die anderen Wichtel schon, und Japps, der älteste und weiseste von ihnen, wurde schließlich ausgesandt, die Menschen zu belauschen. Auch er sprach die Menschensprache nur bruchstückhaft, doch was er berichtete, als die Menschen weitergefahren waren, ließ die Wichtel er­schaudern: Die Gustorfer Mühle sollte restauriert werden. Jeder von ihnen wusste, was das bedeutete – die Spatzen und Meisen überbrachten ihnen immer wieder die Kunde von vertriebenen Wichtelvölkern. Viele Menschen würden kommen, mit riesigen, lauten Maschinen, um ihre Heimat zu zerstören.

Seit Wichtelgedenken hatten sie hier gelebt, auch schon zu der Zeit, als die Mühle noch unbeschädigt war. Die allerältesten Wichtel erinnerten sich noch an den Müller, mit dem sie sich immer gut vertragen hatten. Aber nun stand ihnen weit Schlim­meres bevor als ein paar neue Menschen in der Mühle.

Noch am gleichen Nachmittag riefen sie eine große Versamm­lung ein, zu der auch die Wichtel aus den weit entfernten Ecken der Mühle kamen. Schnell stellte sich heraus, dass die meisten Wichtel versuchen wollten, einige Jahre lang in der Nähe der Mühle in Erdhöhlen zu wohnen, wie es ihre Urahnen auch ge­tan hatten, und hofften, dass sie irgendwann wieder zurück­kehren konnten. Aber es gab auch einige jüngere Wichtel, die sich lieber aufmachen wollten, eine neue Heimat zu suchen.

„Füchse und Marder werden euch verfolgen“, warnten die ande­ren, „und wie wollt ihr überhaupt eine neue Mühle finden?“

Aber darüber hatten die Jungen schon nachgedacht: „Wir lösen beide Probleme auf einen Streich“, erklärte Hubsi, „mit einem Floß – auf dem Wasser werden uns weder Fuchs noch Marder erreichen können, und wenn wir der Erft folgen, werden wir irgendwann auf eine andere Mühle treffen.“ Das hatten ihm zumindest die weitgereisten Vögel ver­sichert.

An einem sonnigen Frühlingstag brach die kleine Gruppe auf. Unweit der Gustorfer Mühle hatten sie eine leere Keksdose ge­funden, in der alle Wichtel Platz hatten, die mit auf die große Reise gehen wollten. Einige von ihnen hatten sich mit Eislöffeln bewaffnet, um die Keksdose steuern zu können, und ganz vor­ne stand Mattes, der Steuermann, und bestimmte den Kurs.

Bald schon hatten sie die Gustorfer Mühle hinter sich gelassen.

„Hübsch hier“, murmelte Finchen manchmal, während sie lang­sam die Erft entlangglitten, und starrte verträumt auf das Ufer.

„Aber hier gibt es keine alte Mühle“, entgegnete Mattes jedes Mal und ließ unbeirrt weiter geradeaus steuern, um Wehre und andere Gefahren herum. Irgendwann machte der Fluss einen Knick, und nachdem sie un­ter einer Brücke hindurchgetrieben waren, verbreiterte sich die Erft. Dann ging alles ganz schnell.

Ein riesiger schwarzer Kopf mit langen Schnurrbarthaaren tauchte direkt vor ihnen auf. Alle Wichtel wichen erschrocken zurück – und schon neigte sich die Keksdose nach hinten, Wasser lief hinein, und Augenblicke später war die Dose um­gekippt. Zum Glück war niemand von der Keksdose unter Was­ser gedrückt worden – aber keiner der Wichtel konnte schwim­men, und bis zum Ufer war der Weg noch weit.

Doch Rettung nahte schon. Der Schwan, der mit seiner Partne­rin hier im Grevenbroicher Stadtpark lebte, hatte die Gefahr er­kannt und eilte nun zu den Wichteln, die im Wasser um ihr Le­ben kämpften. Mit den Flügeln schob er den ersten Wichtel auf seinen Rücken, wie er es sonst mit seinen Jungen tat, und so sammelte er einen Wichtel nach dem anderen auf, bis die Gruppe wieder vollzählig war, und schwamm dann mit ihnen ans nächstgelegene Ufer.

Nachdem sie dem Schwan vielmals für ihre Rettung gedankt hatten, schauten die Wichtel sich um.

„Da hinten, seht doch!“, flüsterte Finchen andächtig, als sie die Uferböschung ein Stück weiter hinaufgeklettert war. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so Schönes ge­sehen wie den riesigen Baum, der dort zwischen den Backsteinbau­ten stand und dessen rote Blüten in der Sonne leuchteten.

„Dort ist aber keine Mühle“, wandte ihre Freundin Bella ein.

Aber das störte diesmal niemanden. Irgendwie würden sie schon einen Weg in diese Häuser finden. Wichtel fanden schließlich immer einen Weg. Und der Baum – ja, der war wirklich etwas ganz Besonderes. So zog die kleine Schar schließlich los, um ihre neue Heimat zu erkunden.

Seit dieser Zeit gibt es auch in Grevenbroich Wichtel. Und manchmal kann man sie in milden Frühlingsnächten sehen, wie sie ausgelassen um die rotblühende Kastanie auf Erckens Insel tanzen, um ihre Rettung zu feiern.

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